Kaum zu glauben: Calixto Bieitos Carmen-Inszenierung geht an der Wiener Staatsoper bereits in die dritte Saison und wirkt immer noch so frisch wie bei der (gestreamten) Premiere im Februar 2021, obwohl die Regiearbeit an sich bald 25 Jahre alt ist. Hier hat Bieito viel richtig und nichts falsch gemacht.

Eve-Maud Hubeaux (Carmen)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Er zeigt die Außenseitergesellschaft rund um Carmen mit einem verständnis- bis liebevollen Blick, aber gänzlich ungeschminkt (anders als die Damen des Milieus, die es modisch bunt und kurz mögen). Sein Fokus liegt auf der sozialen Revolution, die dieses Werk zur Uraufführungszeit 1875 bedeutete: hier ein braver Soldat, der mit der schönen Carmen ein erotisches Erweckungserlebnis hat und von bürgerlichem Glück mit ihr träumt – da eine nur ihrer Lust und Laune verpflichtete Zigeunerin, die ihn zwar auf ihre Weise liebt, aber zur Bindung nicht willig und wohl auch nicht fähig ist. Seinerzeit war das ein Angriff auf das Überlegenheitsgefühl insbesondere des männlichen Publikums, allerdings ging der gesellschaftliche Aspekt in traditionellen Carmen-Klischees mit der Zeit oft unter, und die Handlung verkam zur Privatsache zwischen der Señorita mit dem flatterhaften Wesen und ihrem Don José.

Ilja Kazakov (Zuniga), Eve-Maud Hubeaux (Carmen) und David Butt Philip (Don José)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Hingegen trifft bei Bieito das verrohte Soldatenkollektiv auf die um nichts weniger brutale Schmugglerwelt, in der es ums Überleben, ums Nicht-Erwischt-Werden, und ums Verjuxen der Gewinne bei spontanen Partys geht – in diesem Setting gewinnt die Figur des Don José auch eine oft vermisste Dimension: Er ist nicht nur naiv und eifersüchtig, er stellt einen Besitzanspruch, zu dem ihn die Konventionen seiner Herkunftsgesellschaft berechtigt. Das wird von David Butt Philipp überzeugend dargestellt, wobei er gerade im Finale (mit dem sich schon erfahrenere Tenöre gemüht haben) seine besten schauspielerischen Momente hat. Dieser Don José will vernünftig sein, will Abstand halten, und kommt doch nicht aus ihrem Gravitationsfeld. Sängerisch glänzt er mit nobler Phrasierung der Blumenarie, großer Emotion und respektablem Französisch.

Anna Bondarenko (Micaëla)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Hauptfigur ist und bleibt aber natürlich die Titelheldin, und diese wird von Eve-Maud Hubeaux bestechend gespielt und gesungen. Sie genießt die Vielseitigkeit der musikalischen Sprache zwischen Habanera und spöttischem Trallala, wobei ihre Stimme in der Höhe wie in der Tiefe gleich attraktiv ist. Doch bei aller Lebenslust, die sie vermittelt, gerät ihr gerade die unheilschwangere Kartenszene phänomenal. Diese ist auch durch die ebenso großartigen Leistungen von Ileana Tonca (Frasquita) und Isabel Signoret (Mercédès) bestens vorbereitet. Im Finale hält sie trotz ihrer schlechten Schicksalskarten das Kinn weiter hoch und den Blick von oben herab. Einmal schnell José loswerden und sich dann in Ruhe weiterschminken – eine bessere Regieidee, um Carmens überhebliche wie tragische Fehleinschätzung von Josés Gefährlichkeit zu zeigen, wird man schwer finden.

Erwin Schrott (Escamillo)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Eine ebenso grandiose Idee ist es, den dritten Akt vor einer jener Stierkulissen spielen zu lassen, die in Andalusien die Landschaft zieren, und diese beim Wechsel vom dritten zum vierten Akt krachend nach vorn auf den Bühnenboden zu kippen, und der popkonzertartige Ansturm der Chormassen auf die Corrida zu Beginn des vierten Akts entlockt dem Publikum sogar Szenenapplaus – das haben sich die Chorsänger auch verdient.

Den sehnsüchtig erwarteten Torero gab Erwin Schrott, der bereits der Premieren-Escamillo war. Er hat diese Partie bereits quer durch die Opernwelt gesungen, und trotzdem hörte man Text- und Rhythmusschwierigkeiten beim berühmten „Votre toast“, das auch die gelegentlichen Operngeher problemlos nachpfeifen können. Stur wie ein Kampfstier und selbstbewusst wie Carmen zog er seine Sache durch und erntete trotzdem Begeisterung, denn seinem Charisma kann man sich schwer entziehen. Dazu trägt neben der schneidigen Latin Lover Pose natürlich auch sein Bassbariton bei, der über die Jahre enorm an Größe gewonnen hat – das Publikum verfällt schon allein dem Klang dieser Stimme; wer will da kleinlich sein, wo genau die Phrasen beginnen und enden?

Eve-Maud Hubeaux (Carmen) und David Butt Philip (Don José)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Im Gegensatz dazu bleiben Stefan Astakhov als Moralès und Ilja Kazakov als Zuniga bei aller Kompetenz blass, allerdings gelang die Schmugglerszene mit Carlos Osuna (Remendado) und Michael Arivony (Dancaïre) interessanter als üblich; insbesondere letzterer fiel mit einer gediegenen Gesangsleistung und Bühnenpräsenz auf.

Die größte Überraschung des Abends bot Anna Bondarenko als sensationelle Micaëla, die für ihren großen Auftritt im dritten Akt verdient beklatscht wurde. Diese Darbietung macht Lust auf mehr, zumal sie einen schönen, dunkel grundierten Sopran mit fast Mezzo-artiger Wärme besitzt – sie könnte beinahe Carmens brave Schwester sein.

Alexander Soddy bewies am Pult des Staatsopernorchesters, warum man Carmen am besten live genießt. Sein Dirigat ist agil wie es sein muss, symphonisch üppiger als gewohnt, doch immer dynamisch fein abgestimmt – ein Genuss. Nervenstärke hat er auch, denn der verpatzte erste Einsatz des ansonsten tadellosen Kinderchores war schnell ausgebügelt, und ein Duell mit Erwin Schrott kann man nicht gewinnen.

Großer Jubel und Standing Ovations von einem Publikum, das deutlich jünger als bei anderen Aufführungen des Hauses war. Gut so, weiter so!

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